Wege der Ganzwerdung

Radikale Vergebung – Ein Interview mit Colin Tipping

Vergebung ist ein zentrales Thema im Zusammenhang mit Heilung. Und manchmal eine echte Herausforderung. Wie können wir lernen, zu vergeben? Was ist dazu nötig? Colin Tipping, der Begründer der weltweit bekannten Methode der Radikalen Vergebung, hat sich ausgiebig mit diesen Fragen beschäftigt. Oliver Klatt traf ihn in Berlin und sprach mit ihm über Vergebung und tiefe Emotionen, über den Unterschied zwischen Positivem Denken und Beten sowie über die Fußball-Europameisterschaft.

Oliver Klatt: Mr. Tipping, jemand hat einmal gesagt: „Wenn wir unseren Eltern und den Älteren vergeben, was bleibt dann noch?“ Was würden Sie sagen: Was bleibt dann noch übrig?

Colin Tipping: Nun, es bleibt nichts mehr übrig, wenn wir radikal vergeben. Denn der entscheidende Punkt aus Sicht der Radikalen Vergebung ist, dass nie etwas Falsches passiert ist. Es bleibt also am Ende des Tages nichts mehr übrig, außer einfach anzuerkennen, dass alles genau so ist, wie es sein soll – und dass es nichts zu vergeben gibt. Aber es ist ein langer Weg dorthin, insbesondere für jemanden, für den diese Sichtweise neu ist. Es ist eine sehr radikale Sichtweise von Vergebung. Und ich würde auch nie jemandem davon erzählen, der gerade emotionalen Schmerz verspürt, dem gerade etwas passiert ist und der deshalb noch in einem inneren Durcheinander steckt. Radikale Vergebung ist keine Interventionstechnik. Man kann sie zum Thema machen, wenn man spürt, dass ein Mensch bereit ist, sich für diese Möglichkeit zu öffnen.

Oliver Klatt: Ein zentraler Aspekt Ihrer Methode ist, so schreiben Sie in Ihrem Buch „Ich vergebe“, dass Vergebung bedeutet zu erkennen, dass niemand einem je irgendwelchen Schaden zugefügt hat. Können Sie den Hintergrund für diese Sichtweise erläutern?

Colin Tipping: Dieser Hintergrund lässt sich am besten aufzeigen, wenn man zunächst auf die traditionelle Sichtweise von Vergebung schaut. Dabei vergibt man jemandem etwas, von dem man meint, dass es falsch oder schlecht gewesen ist und dass es nie hätte passieren dürfen. Bei der traditionellen Art von Vergebung geht man davon aus, dass man zum Opfer geworden ist, dass man verletzt worden ist, aber dass man nun bereit ist, dies irgendwie zu vergeben. Diese Sichtweise basiert auf der Annahme, dass etwas Falsches passiert ist, und dass man nun versuchen wird zu vergeben. Dabei stehen diese beiden Energien in einem Widerspruch zueinander. Deshalb ist es so schwierig, Vergebung auf traditionelle Weise zu erreichen. Aber das ist die traditionelle Sichtweise, und das ist unsere Sichtweise, vom menschlichen Standpunkt aus betrachtet. Und so gesehen ist tatsächlich etwas Falsches passiert. Aber vom spirituellen Standpunkt aus betrachtet – und dort ist die Radikale Vergebung angesiedelt – dient alles, was wir uns entscheiden zu tun, unserem Wachstum, unserer Entwicklung und unserem Lernen, auf der seelischen Ebene. In diesem Sinne ist es gemeint, dass nichts Falsches passiert ist, dass alles eine Absicht hat. Wobei nicht notwendigerweise alles vorausgeplant ist, kommt doch einiges auch immer erst im jeweiligen Moment auf, als Teil unseres göttlichen Plans, der sich kontinuierlich weiterentwickelt. Und deshalb geschieht nichts Falsches. Alles ist Teil des Spiels, zu dem wir hierher gekommen sind…

Oliver Klatt: …und das wir nun spielen…

Colin Tipping: …ja, und dabei geht es darum, die Position des „doppelten Denkens“ einzunehmen. Diese besteht darin, die Dinge zunächst durch die eigenen, menschlichen Augen zu betrachten und dabei deutlich die Umstände wahrzunehmen, wie sie hier in der physischen Welt bestehen, sowie auch die Weise, in der wir agieren. Das ist eine Art, auf die Welt zu schauen – und dabei sieht sie häufig nicht so gut aus. Doch zugleich können wir auch diese andere Sichtweise entwickeln, die oberhalb der ersten Sichtweise angesiedelt ist. Und diese beinhaltet, dass trotz allem, was wir hier sehen, darin Perfektion liegt, irgendwo, was wir nicht verstehen und vielleicht auch niemals sehen werden, mit dem Bewusstsein, das wir derzeit haben. Es ist gut, sich an dieses „doppelte Denken“ zu gewöhnen. Es hilft nichts, ausschließlich die spirituelle Sichtweise zu haben und zu sagen: Alles ist perfekt, und deshalb gibt es nichts zu tun, um die Dinge besser zu machen – das ist eine apathische Sichtweise. Wenn wir aber zur selben Zeit sehen können, was in der menschlichen Welt geschieht, und dann die Handlung vornehmen, von der wir meinen, dass wir sie durchführen müssen, um die Dinge besser zu machen, während wir genau wissen, dass all dies Teil des göttlichen Plans ist, sogar unsere Rolle, zu versuchen, die Dinge besser zu machen, dann können wir sehr viel kraftvoller in der Welt sein.

Colin Tipping - Begründer der Methode der radikalen Vergebung

Colin Tipping – Begründer der Methode der radikalen Vergebung

Oliver Klatt: Ich erlebe manchmal bewusst, wie ich von der einen Sichtweise in die andere wechsle. Erst bin ich hier (hebt die linke Hand) und dann, einen Moment später, bin ich dort (hebt die rechte Hand). Kennen Sie das auch?

Colin Tipping: Ja. Und die Praxis ist, so denke ich, diese beiden Sichtweisen zusammen zu bringen. Zunächst sieht man die Dinge von hier aus (hebt die linke Hand), und dann von dort aus (hebt die rechte Hand). Und je dichter man die beiden Punkte zusammen bringen kann (führt beide Hände zusammen), um so mehr kann man in beiden zur selben Zeit sein.

Oliver Klatt: Und das kann manchmal ganz schön herausfordernd sein. Ich möchte Sie noch zu einem anderen Aspekt Ihrer Methode befragen: Wenn ich Sie richtig verstehe, dann sagen Sie, dass wir jederzeit zu 100 Prozent verantwortlich sind für alles, was uns passiert. Können Sie den Hintergrund für diese Sichtweise erläutern?

Colin Tipping: Es ist wieder dieselbe zugrunde liegende Idee: Wir sind hier, um in der einen oder anderen Weise Trennung zu erfahren. Ich denke, dass es das ist, wozu wir uns verpflichtet haben, wenn man so will. Wir haben gesagt: „Okay, wir wissen jetzt, was Eins-sein bedeutet, und wie es wirklich ist, in allem zu sein, was ist!“ Und dann haben wir gesagt: „Ich möchte auf dem Planeten Erde zur Schule gehen und fühlen wie es ist, getrennt zu sein, in einem getrennten Körper zu leben und den Schmerz der Trennung zu verspüren – damit ich so meine Sinne auf das Eins-sein ausdehnen kann!“ Dies ist die Kernsicht der zugrunde liegenden Philosophie. Hierher zu kommen, auf die Erde, ist eine Wahl, die wir treffen. Und dann stellt sich die Frage: Was werden wir tun? Welche Art von Trennung wollen wir erfahren? Möglicherweise denken wir: ‚Nun, vielleicht ist verlassen zu werden etwas, das ich erfahren möchte. Wer kann mir also dabei helfen? Ich denke, ich werde das mit dieser Seele hier zusammen erfahren. Du verführst mich und heiratest mich – und drei Jahre später wirst du mich verlassen. Oh – danke!’ Es ist eine Art Seelen-Vereinbarung. Und wir gestalten kontinuierlich die Ereignisse unseres Lebens, um uns die Erfahrungen zu ermöglichen, derentwegen wir hierher gekommen sind. Ich denke aber, dass wir dann irgendwann an einen Punkt im Leben kommen, wo wir fühlen, dass wir das lange genug gemacht haben – und dann beginnen wir, uns für die andere Seite zu öffnen. Mit anderen Worten: Zunächst lag unser Fokus auf der menschlichen Ebene, nicht zuletzt durch die „spirituelle Amnesie“, die wir bei der Geburt erfuhren – und der wir zuvor zugestimmt hatten. Aber insbesondere in der heutigen Zeit beginnen die Menschen aufzuwachen, oft in der Mitte ihres Lebens, und plötzlich Fragen zu stellen wie: „Gibt es mehr als das hier?“ oder zu sagen: „Es muss eine andere Art von Wahrheit geben…“ Und dann entdecken sie Dinge wie die Radikale Vergebung oder Reiki oder Transzendentale Meditation oder irgendetwas anderes, das sie dorthin bringt, das sie über die einfache menschliche Erfahrung hinaus trägt. Und ich stelle fest, dass der Fokus von diesem Punkt an mehr darauf liegt, anderen zu helfen. Und diese Menschen beginnen dann auch, den Beobachter in sich zu entwickeln. Sie beginnen, sich ihrer selbst bewusster zu werden, ihre Gefühle und Gedanken im Auge zu behalten, mehr zu meditieren, ihrer inneren Stimme zu vertrauen. All diese Dinge geschehen heute zunehmend. Es ist ein Prozess des Erwachens, den jedes Individuum durchläuft – und ich sehe ihn weltweit geschehen.

Oliver Klatt: Das ist auch mein Eindruck.

Colin Tipping: Es ist ein weltweites Phänomen, wie es nie zuvor da gewesen ist. Es wirkt auf mich wie ein Erwachen der Massen. Das ist meine Hoffnung. Denn ich möchte immer noch anwesend sein, hier auf Erden, wenn dies geschieht.

Oliver Klatt: Ich auch. Dies ist eine wunderbare Vision. (Kurze Pause) Ich möchte Sie noch zu einem anderen wichtigen Punkt befragen, und zwar zu einem Schattenaspekt von Vergebung: der Rache. Wie denken Sie darüber? Gibt es irgendeinen guten Grund dafür, sich an jemandem rächen zu wollen?

Colin Tipping: Rache ist süß… und sie ist weit verbreitet. Es ist eine menschliche Erfahrung, eine menschliche Emotion, und als solche muss sie wertgeschätzt werden. Zumindest das Gefühl. Nicht unbedingt das Handeln, das daraus entstehen kann. Was für Emotionen die Menschen auch immer haben, diese müssen geehrt werden. Und dabei ist das Gefühl wichtig. Es darf nicht zensiert werden, es darf nicht verändert werden. Es ist einfach das, was es ist. Darin liegt sehr viel Kraft: in der Energie dieser Emotion. Wir können diese Energie an die Oberfläche bringen und sie dann durch den Vergebungsprozess transformieren. Es ist sehr wichtig, dass man die Emotion zunächst fühlt. Also: Rache oder dieses Gefühl, sich an jemandem rächen zu wollen, ist eine sehr kraftvolle Emotion, und nach menschlichen Maßstäben vielleicht sogar gerechtfertigt. Aber wir wissen, psychologisch betrachtet, dass sie uns am Ende nicht hilft. Rache ist kein Reinigungsbad. Sie mag für eine Weile süß sein, aber sie hilft der Person nicht wirklich – während Vergebung tatsächlich hilft.

Oliver Klatt: In Ihrer Methode nehmen Sie also die Kraft einer Emotion wie z. B. „sich an jemandem rächen wollen“ und benutzen diese, um die Emotion in ihre positive Entsprechung zu transformieren, welche Vergebung ist?

Colin Tipping: Ja, wobei wir es immer wertschätzen, wenn jemand eine Emotion zum Ausdruck bringt. Jemand wurde vielleicht verletzt, und wer kann da sagen: „Du solltest dieses Gefühl nicht haben!“ Besser ist es zu sagen: „Es ist ein natürliches Gefühl – aber würdest du nicht lieber in Frieden sein?“ Und vielleicht sagt der andere dann sogar: „Nein, ich möchte Rache nehmen.“ Aber schlussendlich ist das Gefühl von Frieden sehr viel wünschenswerter als das von Zorn, das dem Rache-Gefühl zugrunde liegt. Und dann versuchen wir, einen inneren Raum für Dankbarkeit zu erzeugen, damit die Menschen Dankbarkeit für das fühlen können, was derjenige, an dem sie sich zuvor hatten rächen wollen, FÜR sie getan hat… Dies ist ein großer Schritt. Aber er geschieht beinahe wie von selbst. Man realisiert plötzlich, dass einem das, worum es geht, nicht einfach passiert ist, sondern dass es FÜR einen passiert ist, dass es so etwas wie ein Geschenk für einen ist. Es ist ein Geschenk von Gott oder wie immer man das nennen möchte, was durch die Bereitschaft einer Person entsteht, zu sagen: „Nun, ich gebe mich der Idee hin, dass dies möglicherweise perfekt ist…“.

Oliver Klatt: Sie erwähnten gerade Gott… Wenn jemand einem anderen Menschen vergibt, dann ist dies eine Sache. Einige Menschen, die an Gott glauben, würden vielleicht sagen: Es ist Gott, der uns vergibt. Welche Rolle, denken Sie, spielt Gott in dem Prozess der Vergebung?

Colin Tipping: Das betrachtet jeder anders, je nach seinem Glauben. Ich bin an keine Religion gebunden, und ich schließe keine Religion aus. Das einzige, was wichtig ist, ist der Glaube, dass es eine Kraft gibt, die größer ist als wir. Für einen Atheisten ist das vielleicht ein harter Brocken. Aber da ist diese Wahrnehmung einer Art universeller Intelligenz, die größer ist als wir. Und die Idee, dass, während wir als Menschen sterblich sind, wir eine spirituelle Wesenheit waren, bevor wir hierher kamen, und dass wir wohl wieder eine spirituelle Wesenheit sein werden, wenn wir die Erde wieder verlassen. So weit ich weiß ist diese Sichtweise auch ein Bestandteil der meisten Religionen. Der einzige Punkt, in dem man sich nicht einig wird, ist, ob wir dies mehr als einmal tun. Die Art, in der ich diesen Zusammenhang zu erklären versuche, ist so unreligiös wie möglich. Ich denke, wir besitzen eine geistige Kraft, die spirituelle Intelligenz genannt werden kann. Und ich betrachte spirituelle Intelligenz als ein Phänomen, das wir miteinander teilen können. Wir beide haben sie. Wir alle haben sie zusammen. Jeder verfügt über eine gewisse Fähigkeit, in diese Kraft einzutreten, die allwissend ist und absolute spirituelle Weisheit besitzt. Dies ist der Teil von uns, den ich Gott nennen würde. Ich stelle mir Gott nicht als einen alten Mann mit Bart vor. Die Sache verhält sich eher so wie bei einem Radio, das Radiowellen empfängt. Es gibt diese universelle Intelligenz, und ich verwende mein „Radio“, um in sie einzutreten – und auf diese Weise erhalte ich alle Intelligenz, die ich möchte.

Oliver Klatt: Das ist interessant, was Sie sagen. Eine der Großmeisterinnen des Usui-Systems des Reiki, Hawayo Takata, hat die Verbindung zu Reiki ebenfalls auf diese Weise erläutert, mit dem Bild eines Radios, das Radiowellen empfängt…

Colin Tipping: Demnach könnte Reiki-Intelligenz das gleiche sein wie spirituelle Intelligenz. Und Sie sind ein Kanal, wenn Sie Reiki anwenden.

Oliver Klatt: Ja. Und es gibt noch eine andere Sichtweise, die besagt, dass Reiki nicht die spirituelle Intelligenz selbst ist, sondern dass diese Energie der spirituellen Intelligenz erlaubt, besser einzutreten. So gesehen ist eine Reiki-Behandlung eine Art Vorbereitung, um sich besser mit der spirituellen Intelligenz zu verbinden, man könnte vielleicht sagen, um eine Brücke zu Gott zu bauen. Wie ist das bei Ihrer Methode? Arbeiten Sie auch mit spiritueller Energie? Hat die Radikale Vergebung einen energetischen Zusammenhang?

Colin Tipping: Ja, ich würde sagen, das Ganze ist eine energetische Erfahrung. Obwohl ich persönlich nicht hellfühlend bin. Das heißt: Wenn ich in einen Raum komme, dann fühle oder sehe ich keine Energie. Aber ich bin mir bewusst darüber, dass dieser ganze Prozess energetischer Natur ist. Und auf dieser Ebene arbeitet und wirkt die Methode.

Oliver Klatt: In Ihrem neuen Buch, „Vom Herzenswunsch zur Realität“, schreiben Sie über Ihr Konzept der Radikalen Manifestation und wie diese einen dabei unterstützt, sich das Leben zu kreieren, das man führen möchte. Was aber ist wirklich möglich für uns, in unserem Leben jetzt zu erschaffen? Ein bisschen von dem, was wir uns wünschen? Ein bisschen mehr? Alles? Zu jeder Zeit?

Colin Tipping: Die einzige Begrenzung ist der individuelle Grad unserer Bereitschaft und unserer Offenheit, zu empfangen – sofern die Quantenphysiker recht haben mit dem, was sie sagen: dass es ein riesiges Meer von Potenzial gibt, in dem alles vorhanden ist, was jemals war, was ist und was je sein wird. Und das Bewusstsein ist das Element, das all das hierher bringen kann. Demnach können wir potenziell alles kreieren, was wir möchten…

Oliver Klatt: …wenn wir es schaffen, die beiden Sichtweisen – die menschliche und die spirituelle Sichtweise – zu 100 Prozent zusammen zu bringen, wie wir vorhin sagten…

Colin Tipping: Ja. Und die menschliche Sichtweise ist jene, mit der unser Geist üblicherweise in Verbindung tritt. Also müssen wir, so wie zur Ausbildung einer jeden anderen Fähigkeit auch, lernen, die menschliche Sichtweise mehr und mehr zusammen zu bringen mit der spirituellen Sichtweise.

Oliver Klatt: Beinhaltet Ihre Methode der Radikalen Manifestation auch einen Aspekt von Gnade? Ich meine die Idee, dass man etwas auch passiv empfangen kann – so dass es hier wieder beide Seiten gibt?

Colin Tipping: Auf jeden Fall. Und wenn die Dinge dann zu einem kommen, dann rationalisiert man häufig und sagt: „Meine Tante ist gestorben und hat mir Geld hinterlassen, aber das hat nichts mit mir zu tun.“ Wenn man es so betrachtet, dann wird daraus einfach nur ein Zufall. Dann negieren wir die Vorstellung, dass wir um etwas gebeten hatten, und dass es nun zu uns kommt, in einer Weise, die wir vielleicht nicht erwartet hätten. Aber das alles ist Teil des Resonanzprinzips. Und das ist die Gnade. Wenn wir es so sehen können und sagen: „Oh, danke!“, dann passiert etwas in uns. Das Ganze wird damit Teil unserer Zellstruktur, wenn man so will. Und die Struktur verändert sich auf der energetischen Ebene.

Oliver Klatt: Und ein Schlüsselwort dabei ist Dankbarkeit.

Colin Tipping: Ja, und wenn man wirklich beginnt es wahrzunehmen, dann passiert es häufig, viel häufiger als wir zunächst dachten. Und wieder geht es vor allem darum, diese Sichtweise zu entwickeln: „Schau mal, wie das passiert ist!“ Einfach immer offener für das zu werden, worum wir gebeten haben. Und zu bemerken, dass es passiert. Denn häufig bemerken wir es nicht einmal. Wir beginnen auf einfache Weise, mit kleinen Manifestationen, und dann erweitern wir unsere Bereitschaft, mehr und mehr zu empfangen.

Oliver Klatt: Da gibt es einen Punkt in der Idee des Positiven Denkens, zu dem ich immer eine große, offene Frage habe. Jemand hat das folgende Beispiel gegeben: Bei der Fußball-Europameisterschaft in diesem Jahr gibt es 16 Mannschaften. Und jede Mannschaft möchte am Ende Sieger sein. Aber das ist nicht für jede Mannschaft möglich – es ist nur für eine der 16 Mann schaften möglich. Also scheint es Begrenzungen für die anderen 15 zu geben… Können Sie etwas dazu sagen?

Colin Tipping: Ich möchte zunächst etwas zu der Idee des Positiven Denkens sagen. Ich betrachte Positives Denken nicht als eine Manifestation. Das sind zwei verschiedene Dinge. Ich glaube nicht an Positives Denken, weil dieses in der Regel beinhaltet, das Negative zu unterdrücken. Aber Gefühle sind Gefühle, wie immer sie auch sind. Gedanken sind Gedanken, wie auch immer sie sind. Sie müssen beobachtet werden, anstatt einfach nur zensiert.

Oliver Klatt: Was ist also der Hauptunterschied zwischen dem Positiven Denken und der Radikalen Manifestation?

Colin Tipping: Radikale Manifestation ist vor allem ein Gebet. Es ist eine Bitte – was auch immer es ist, das man haben möchte. Aber man haftet dabei dem, was man haben möchte, nicht an. Das ist der spirituelle Schritt: nicht anzuhaften. Mit anderen Worten: Dein Geist weiß besser als du selbst, was du wirklich benötigst. Und das einzige Gebet in der Radikalen Manifestation ist: „Gib mir das, was in meinem höchsten und besten Interesse ist.“ Aber wir benötigen viel Vertrauen dafür. Und im Falle der Fußball- Europameisterschaft wird die Siegermannschaft jene sein, für deren Spieler es in ihrem höchsten und besten Interesse ist, Sieger zu werden. Und die Mannschaft auf Platz zwei wird jene Mannschaft sein, für deren Spieler es in ihrem höchsten und besten Interesse ist, wenn sie Platz zwei belegen, so dass sie fühlen können wie es ist, nicht die Nummer eins zu sein.

Oliver Klatt: Am Ende wird also eine Art Kompromiss daraus…

Colin Tipping: Ich denke nicht, dass es ein Kompromiss ist. Jeder erhält genau das, was er benötigt.

Oliver Klatt: Von der Seite des Egos aus betrachtet mag es sich wie ein Kompromiss anfühlen.

Colin Tipping: Ja, eine Enttäuschung…

Oliver Klatt: Aber man erhält zu 100 Prozent, was man benötigt?

Colin Tipping: Ja. Und die Spieler der Mannschaft auf Platz drei erhalten, was sie benötigen, um fühlen zu können, wie es ist, nicht auf Platz zwei zu sein… (Lachen)

Oliver Klatt: (Lachen) …wenn also eine der 16 Mannschaften gewinnt, und die anderen 15 nicht, dann geschieht dies alles im höchsten und besten Interesse sämtlicher Spieler aller 16 Mannschaften, von der spirituellen Ebene aus betrachtet…

Colin Tipping: Und die Menschen mit einem derart tiefen metaphysischen Verständnis sind wahrscheinlich nicht die besten Fußballspieler. Weil man dazu wirklich eine vom Konkurrenzdenken geprägte Natur braucht. Ich könnte das nicht. Weil ich sagen würde: „Was auch immer… wenn wir verlieren, ist das schon okay!“

Oliver Klatt: Aber denken Sie wirklich, dass für jedes menschliche Wesen auf diesem Planeten, jetzt, in diesem Moment, alles genau so ist, wie jeder es sich wünscht, auf der spirituellen Ebene? Oder denken Sie, dass es in der Zukunft einen Punkt geben wird, an dem wir alle, ohne jede Ausnahme, unsere menschliche Sichtweise zu 100 Prozent in die spirituelle Sichtweise transformiert haben werden? Gibt es eine Art finalen Punkt, den es gilt zu erreichen, das Goldene Zeitalter, das wiedererlangte Paradies, und dann mit 100 Prozent Bewusstsein darüber – oder wird es dazu nie kommen?

Colin Tipping: Ich denke, dass wir in diesem Moment nicht einmal erahnen können, wie das aussehen kann. Es ist so sehr Teil des größeren spirituellen Bildes, zu dem wir keinen Zugang haben, dass dies ein Punkt ist, zu dem wir uns lediglich vorstellen können, wie es wohl sein mag: in einem permanenten Zustand von Glückseligkeit und Frieden und Liebe zu sein. So wie ich es sehe, ist das große Experiment beinahe vorüber. Das große Experiment war die Ausdehnung des göttlichen Geistes, und diese Ausdehnung fand und findet statt, damit Gott sich manifestieren kann. Dazu musste er uns erschaffen, so dass Gott fühlen konnte wie es ist, manifest zu sein. Also zieht er seine kleinen Handschuhe an und spielt in dieser Welt. Aber das Experiment ist an einen Punkt gekommen, wo er sagt: „Okay, das reicht jetzt! Lasst uns nun Himmel und Erde zusammenbringen!“ Wir werden also immer noch in Körpern existieren, und wir werden wahrscheinlich auch immer noch Fußball spielen, aber das Spiel wird anders ein, die Regeln des Spiels werden andere sein. Ich denke nicht, dass es keine Uneinigkeiten mehr geben wird. Aber die Art, wie wir mit diesen Uneinigkeiten umgehen werden, wird anders sein. Sie wird von einem inneren Ort der Liebe und Offenherzigkeit ausgehen – und wir werden offenen Herzens Fußball spielen. So sehe ich es. Und ich denke, das Ganze wartet bereits um die Ecke auf uns. Ich fühle, dass es kommt. Was wir derzeit erleben, diese Zeit, mit all ihren Problemen, ist die Heilungskrise, die uns dorthin bringen wird. Der Zusammenbruch ist Teil des Durchbruchs. In der Weise, dass alles, was in der Welt erscheint, die Kriege und alles andere, von Nutzen für Gott ist, uns an diesen Platz zu bringen. Wir werden durch unsere Heilungskrise hindurch gehen – und auf der anderen Seite wieder hervor kommen!

Oliver Klatt: Mr. Tipping, danke für das Interview!

Info zur Tipping-Methode

Hina Fruh & Thomas Kiehl-Fruh
E-Mail: info@tipping-methode.de
www.tipping-methode.de

Bücher von Colin Tipping im J.Kamphausen-Verlag

Colin Tipping: Ich vergebe: Der radikale Abschied vom Opferdasein
Colin Tipping: Vom Herzenswunsch zur Realität: Mit spiritueller Intelligenz Träume erfüllen

Erstveröffentlichung dieses Artikels im REIKI MAGAZIN Nr. 3/08, Seiten 17-21.

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Klatt Oliver

Veröffentlicht von

Oliver Klatt ist Herausgeber des Reiki Magazins und ist deutschlandweit als Reiki-Lehrer tätig. Nach dem Studium der Publizistik an der FU Berlin, mit Abschluss Magister Artium, war er kurze Zeit als Redakteur für die Deutsche Informations Börse (DIB) tätig, ehe er begann, seine Begeisterung für Spiritualität und geistiges Heilen auch beruflich umzusetzen. Seit 1994 praktiziert er Reiki, seit 2001 bildet er in Reiki aus. Seine Bücher, darunter „Reiki und Schulmedizin“ und „Die Reiki-Systeme der Welt“, seine Essays und Fachartikel sind in sieben Sprachen übersetzt worden.

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