Wege der Ganzwerdung

Konstruktivismus als pragmatische Lebensphilosophie

Der Konstruktivismus als pragmatische Lebensphilosophie und Arbeitsbasis für Systemische Therapie und NLP

„Die Wirklichkeit wird nicht von uns entdeckt – sie wird von uns erschaffen.“ (Antoine de Saint-Exupéry)

Dieser einleitende Satz stammt nicht von einem Therapeuten oder Erkenntniswissenschaftler, sondern von einem der bedeutendsten Schriftsteller des letzten Jahrhunderts. Doch drückt er genau das aus, was konstruktivistisch fundierte Therapieformen wie die Systemische Therapie und das Neurolinguistische Programmieren als Ausgangspunkt für Therapie, Coaching und Beratung nutzen.

In diesem Artikel möchte ich eine kleine, vereinfachte Einführung in die Denkweise des Konstruktivismus geben, aufzeigen was diese Theorie mit unserem konkreten Leben zu tun haben kann und was die Systemische Therapie und das NLP daraus ableiten.

Der Konstruktivismus

Der Physiker Heinz v. Foerster fasste seine Erkenntnisse in diesem Satz zusammen: „Die Umwelt, die wir wahrnehmen, ist unsere Erfindung.“ Das heißt, dass wir die Wirklichkeit nicht passiv aufnehmen, sondern, dass wir sie aus unserem persönlichen Erfahrungshintergrund heraus fortwährend neu aufbauen und „konstruieren“.

Es wird davon ausgegangen, dass wir mit unseren biologisch-sensorischen Erkenntnisapparat nicht dazu in der Lage sind, die Realität innerlich abzubilden. Es wird jedoch nicht geleugnet, dass es eine objektive Realität gibt. Sie ist für uns lediglich nicht erfassbar. Was der Mensch wahrnimmt, sind daher nicht die Dinge an sich, sondern die Erfahrungen von den Dingen. Unser Erkenntnisapparat hat im Sinne des Konstruktivismus die Aufgabe, unsere Erfahrungswelt zu organisieren, auf subjektiv erlebte Probleme zu reagieren und entsprechende Lösungen zu finden. Er könne nicht dazu dienen, eine objektive Realität zu erkennen.

Die biologischen Konstruktivisten Maturana und Varela stellten fest, dass von unserem wahrgenommenen optischen Bild vom Verhältnis der Nervenverbindungen zwischen Netzhaut und visueller Hirnrinde her gesehen, nur ein hundertstel der Verbindungen von der Netzhaut stammt. 99% der Nervenverbindungen werden also von bereits in der Vergangenheit abgespeicherten und schon bekannten Strukturen gespeist. Der optische Eindruck wird hier wie eine Stimme gesehen, welche zu den vielen Stimmen bei einer heftigen Diskussion in einer Großfamilie hinzukommt.

Schon 1933 veröffentlichte der Semantiker Alfred Korzybki, der zu den Vordenkern des NLP und des modernen Konstruktivismus zählt, folgendes Zitat: „Die Landkarte ist nicht das Gelände“. Er betont dabei, dass unser Gehirn fähig ist, alleine auf die Landkarte zu reagieren und das dargestellte Gelände weitgehend auszublenden oder im Extremfall ganz zu vergessen.

Wenn wir dies auf unser konkretes Leben übertragen, kann das bedeuten, dass z.B. eine harmlose kritische Äußerung eines Kollegen ein Wirklichkeits-Muster bei uns auslöst, mit dem wir als fünfjähriges Kind auf eine heftige Schelte des Vaters reagiert haben. Diese erlebte Realität ist konstruiert, zusammengebaut, aus einem Input von außen und einer dadurch ausgelösten Lawine von Bausteinen aus vergangenen Erfahrungen. Von Glaserfeld betont, dass wir dies nicht absichtlich machen, sondern, dass uns dies einfach wiederfährt.

Wie können wir diese Erkenntnisse nutzen?

Meiner Meinung nach können vom Konstruktivismus folgende für unser Leben relevante Anregungen ausgehen:

  • Welchen Standpunkt wir auch immer zu einem Thema einnehmen, auch wenn wir noch so sehr glauben im Recht zu sein. Es ist nicht die objektive Realität – nicht die Wahrheit. Bestenfalls ist es ein gut passendes Konstrukt für einen Menschen oder ein System in einer bestimmten Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt. Wie schnell könnten wir manche Konflikte und Meinungsverschiedenheiten klären und uns einander annähern, wenn wir dies beherzigen würden? Ein gesunder Zweifel an der Absolutheit unserer Wahrnehmung kann zu einer verbindenden Offenheit und einer Suchhaltung führen nach einem gemeinsamen Nenner in der Wahrnehmung.
  • Der Konstruktivismus ist eine hilfreiche Medizin bei jeder Art von Intoleranz, ideologischer, dogmatischer oder fanatischer Weltanschauung. Eine Wirklichkeitskonstruktion wird auch dadurch nicht wahrer, dass Tausende oder Millionen von Menschen sich darauf geeinigt haben und dieses als feststehende Realität zementieren. Der Konstruktivismus kann daher einen wertvollen Beitrag leisten zur interkulturellen Verständigung sowie zur Relativierung, Toleranz und Offenheit im religiösen Kontext und generell im Bezug auf Weltanschauungen.
  • Aus der Sicht des Konstruktivismus sind wir als biologisches System fortwährend damit gefordert uns an die Umwelt anzupassen, uns an sie zu „koppeln“. Nur so können wir jeweils eine kreative und eine der persönlichen Entwicklung dienliche Antwort für eine Situation finden. Diese fortwährende „Update-Funktion“ über unser Sinnes- und Erkenntnissystem ist Teil eines zirkulären Prozesses, so dass unser Erkennen und Handeln ständig auch auf die Umwelt zurück wirkt. Eine bewusste und achtsame Lebensführung ist demnach ein Beitrag zu unserer persönlichen „Evolution“. Wir haben als Menschen die Möglichkeit alte, inadäquate und längst überholte Denk- und Verhaltensstrukturen zu erkennen, uns davon zu distanzieren und so unsere Wahrnehmung zu öffnen für das was im Moment „ist“. Mit diesem bewussten Update-Modus können wir die Realität an sich zwar nicht erfassen, doch sind wir zugänglich für neue Informationen, die uns eher mit dem „Fluss des Geschehens“, mit dem „Jetzt“ verbinden. Wir handeln dadurch „sinn-voller“.
  • Eine Besonderheit des Menschen ist, dass er seine selbst erfundenen Wirklichkeiten beobachten kann. Obwohl diese weitgehend automatisch ablaufen, haben wir als bewusste Individuen eine gewisse Wahlfreiheit in der Auswahl der Konstrukte. Wir können potenziell mitentscheiden, welchen inneren Programmen wir Raum geben wollen und welchen nicht. Wir können prüfen, ob eine Geschichte, die wir uns über das Leben, über uns selbst, über andere Menschen erzählen uns gut tut und wachsen lässt oder eher schadet und krank macht. Komme ich in meine Kraft, wenn ich mir z.B. erzähle, dass ich ein bedauernswertes Opfer bin, das vom Leben benachteiligt wird oder eher, wenn ich mir sage, ich kann die Dinge beeinflussen und nutze den Spielraum, der mir mein Leben bietet? Heinz von Förster hat den ethischen Imperativ aufgestellt: „Handle stets so, dass sich die Anzahl deiner Wahlmöglichkeiten erhöht.“
  • Darüber hinaus kann der Konstruktivismus dazu anregen, sich die Frage nach der „objektiven Realität“ zu stellen. Woher kommen wir? Wer sind wir? Wo gehen wir hin? Es ist im Konstruktivismus nicht ausreichend geklärt, woher die Sehnsucht nach Wahrheit, Echtheit und der Wunsch nach einer Erfassung der Wirklichkeit kommt. Gibt es intuitive Erkenntnisse? Gibt es reale „spirituelle“ Erfahrungen? Was würde passieren, wenn ein Mensch es schaffen würde, kurzzeitig nichts zu konstruieren? Ist das möglich? Kann es neben unserem Sinnes- und Verstandessystem, das offensichtlich nur einen rein biologischen Zweck verfolgt, eine wissenschaftlich noch unentdeckte Wahrnehmungs- oder Bewusstseinsmöglichkeit geben?

Wie wird mit dem Konstruktivismus in Beratung und Therapie gearbeitet?

In der Systemischen Therapie führt das konstruktivistische Denken dazu, dass prinzipiell nicht von Wahrheiten gesprochen wird. Ein Berater oder Therapeut erhebt nicht den Anspruch darauf, die Komplexität eines Systems erfassen oder erklären zu können. Er stellt jedoch Hypothesen auf und schlägt neue Wirklichkeitskonstruktionen vor, die dem System (Individuum, Familie, Team, Organisation…) mehr Handlungsmöglichkeiten eröffnen. Das Hauptkriterium für eine passende Hypothese oder Konstruktion ist demnach nicht, ob es wahr, sondern ob es nützlich ist. Ziel ist immer, dass durch das Einbringen anderer Sichtweisen, Erklärungen und durch Erzeugung von Unterschieden im Erleben die Selbstregulation des Systems wieder in Gang kommt. Dann kann es mit der wahrgenommenen Realität wieder besser zurecht kommen und adäquate Lösungen finden.

Methodisch wird z.B. mit Sichtweisen Dritter gearbeitet (zirkuläres Fragen: Was würde Ihr Vorgesetzter dazu sagen? Wie geht es Ihrem Sohn, wenn Ihre Frau weint?….), mit Interventionen und Aufgaben für zu Hause, die i.d.R. dazu dienen, festgefahrene Muster und Abläufe zu unterbrechen (z.B. Beobachtungsaufgaben: was läuft gut?, absichtlich einen Fehler machen bei Angst vor Versagen…) und mit Externalisierungen (ein inneres Bild von einer Situation wird von innen nach außen gebracht: Familien- und Systemaufstellungen, Skulpturarbeit, ein Symptom wird hypothetisch auf Stuhl gesetzt und befragt, Arbeit mit dem inneren Team usw.). Im lösungsorientierten Ansatz werden Situationen gesucht in denen unwillkürlich ein „Ausnahme-Konstrukt“ erlebt wurde. Dieses wird für die Lösung des aktuellen Problems nutzbar gemacht und bewusst eingesetzt.

Im NLP liegt der Schwerpunkt in der Untersuchung und Modifizierung unserer inneren Repräsentationen von der „Realität“. Es wird sozusagen unsere innere Landkarte auf ihre Tauglichkeit hin analysiert und für das äußere Gelände optimiert. Eine große Rolle spielen hierbei unsere sprachlichen Codierungen, die neuronal mit bestimmten Programmen und komplexen Wahrnehmungsmustern verknüpft sind (daher der Begriff Neuro-Linguistisches Programmieren). Man spricht auch von Wahrnehmungsfiltern, bestimmten Grundeinstellungen, die das im Außen Erlebte selektieren und „färben“. Diese Filter werden durch den Aufbau von neuen Verknüpfungen (visuell, auditiv, kinästhetisch) ressourcenorientiert verändert. Es wird im NLP vorausgesetzt, dass jeder inneren Wirklichkeit, jedem Handeln prinzipiell eine positive Absicht zu Grunde liegt. Ein als einschränkend erlebtes Muster wird demnach wertgeschätzt und als ein Handeln angesehen, das evt. in einem anderen Kontext nützlich sein kann. Es geht insgesamt darum, durch verschiedene Arbeitsformate die Wahlmöglichkeiten zu erweitern.

Im NLP gibt es ein umfassendes Repertoire an Techniken und Prozessabläufen. Grundlegende Arbeitsformen sind z.B. die Arbeit mit Submodalitäten (Analyse eines inneren Zustandes: was sage ich mir? Wie sieht mein inneres Bild aus? Wie fühlt es sich an? Was passiert, wenn das Bild kleiner wird oder ich mir etwas anderes sage…), die Zeitlinienarbeit (auf der eigenen Lebenslinie im Raum werden z.B. Ressource-Erlebnisse aus der Vergangenheit wieder erlebt, gesammelt und verankert) und die Arbeit mit Wahrnehmungspositionen (Wie fühl sich die Position des Chefs an? Wie nimmt er mich wahr? Wie ich ihn? Wie ist es, wenn ich beide von außen betrachte in der Meta-Position? Welche Ressource bräuchte ich jetzt?…..). Im sog. „Meta-Modell der Sprache“ werden einschränkende Konstrukte und deren Tiefenstruktur erkennbar. Diese können durch bestimmte Fragetechniken bewusst gemacht werden.

Resumee

Der Konstruktivismus ist, wie ich versucht habe zu verdeutlichen, nicht nur ein theoretisches Gebilde für interessante philosophische Gespräche. Es ist vielmehr ein ernst zu nehmendes und – systemisch gesprochen – sehr nützliches Modell zur Erklärung unserer Wirklichkeit. Es hat den Aufforderungscharakter, unsere Wahrnehmungen und inneren Haltungen mehr zu hinterfragen, uns bewusster mit dem Leben auseinanderzusetzen und uns immer wieder neu zu „er-finden“. Darüber hinaus bietet diese Denkweise eine hervorragende Arbeitsfläche für professionelle Veränderungsarbeit im beraterischen und therapeutischen Kontext.

Auf der anderen Seite wird diesem wissenschaftlichen Modell – vielleicht zu recht – vorgeworfen, dass eine subjektive und kollektive Beliebigkeit entstehen kann, wenn wir alles Wahrgenommene und jede Art von Erleben konsequent als Konstrukt und Erfindung bewerten. Meiner Meinung nach, kann jeder nur für sich selbst überprüfen, ob es Werte und Bewusstseinsmöglichkeiten gibt, die über die individuell erfundenen Konstrukte hinaus gehen. Ich schlage daher vor, sich trotz oder gerade wegen des Konstruktivismus nach der „Realität an sich“ zu fragen und um sie zu „ringen“. Denn in letzter Instanz muss man auch zugeben: Der Konstruktivismus ist auch nur ein Konstrukt.

Literaturhinweise:

  • Maturana, Humberto R./ Varala, Fransisco J.: Der Baum der Erkenntnis. Frankfurt 2009
  • Varela, Francisco: Die Biologie der Freiheit, Psychologie heute 9/ 82, S. 82-93
  • Von Förster, Heinz/ von Glaserfeld, Ernst/ Heil, Peter M.: Einführung in den Konstruktivismus. München 2008
  • Von Förster, Heinz/ Pörksen, Bernhard: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners (Gespräche für Skeptiker), Heidelberg 2008
  • Von Schlippe, A./ Schweizer J.: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung. Göttingen 2000
  • Seymour, J./ O´Connor, J.: NLP: Gelungene Kommunikation und persönliche Entfaltung, Kirchzarten 2008
  • Watzlawick, Paul: Wie wirklich ist die Wirklichkeit?: Wahn, Täuschung, Verstehen. München 2007
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Kemmerer Andreas

Veröffentlicht von

Diplom-Sozialpädagoge (FH), Psychotherapie (nach ECP), Heilpraktiker (Psychotherapie), Systemischer Therapeut/ Familientherapeut (IGST/WISL), NLP-Master (DVNLP), Holistisch-Medizinischer Kinesiologe (KnR), META-Medizin-Berater und -Trainer (IMMA)

2 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Selbstliebe und Konstruktivismus ist eine explosive Mischung, die einem jeden Herzenswunsch erfüllt!
    Man darf nur auf dem steinigen Weg zu seinem Herzenswunsch nie den Glauben an seine Fähigkeiten verlieren. Mit jeder gemeisterten Aufgabe bekommt man neue Weisheit, die einen näher an seine Ziele bringt.

    Zumindest ist das gerade meine Wahrnehmung von einer wunderbaren Wirklichkeit!

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